Wissenschaft, Waldbaden und Mythen verbinden sich zu einem eindrücklichen Erfahrungsraum: An einer geführten Begehung im Giessbachwald sensibilisierten Diana Soldo, Umweltwissenschaftlerin und Waldexpertin der Fondation Franz Weber, und der Sagenwanderer Andreas Sommer das Interesse für naturnahe Wälder – ein Lebensraum, der in der Schweiz noch viel zu selten ist.
Die Wälder der Schweiz sind weit mehr als nur grüne Flächen: Sie gehören zu den artenreichsten Lebensräumen des Landes. Rund 40 Prozent aller bekannten Tier- und Pflanzenarten leben im Wald – vom seltenen Schwarzspecht bis zum unscheinbaren Moos auf einem alten Baumstamm. Besonders naturnahe und unbewirtschaftete Wälder leisten einen unschätzbaren Beitrag zur biologischen Vielfalt.
In einem weitgehend der Natur überlassenen Wald oberhalb des Brienzersees fand eine eindrucksvolle dreitägige Begehung statt – im Giessbachwald. Geleitet wurde sie von der Biologin und FFW-Waldexpertin Diana Soldo und dem Sagenwanderer Andreas Sommer.
Der hohe ökologische Wert des Gebiets wird bald auch offiziell anerkannt: Der Giessbachwald steht kurz vor der Ausweisung als Naturwaldreservat – ein wichtiger Schritt für den langfristigen Schutz dieses einzigartigen Lebensraums.
Totholz und alte Bäume
Der sogenannte Naturwald zeichnet sich dadurch aus, dass keine forstwirtschaftlichen Eingriffe erfolgen. Umgestürzte Bäume bleiben liegen, Totholz darf verrotten – so entsteht Lebensraum für Pilze, Insekten, Vögel und Kleinsäuger.
Diana Soldo vermittelte anschaulich, wie diese natürliche Waldentwicklung zu mehr ökologischer Vielfalt führt und welche wichtige Rolle alte Bäume dabei spielen: «Bäume kommunizieren untereinander und jüngere Bäume profitieren dabei von der Erfahrung und dem Schutz der älteren Bäume.» Doch die sogenannten Mutterbäume sind in der Schweiz – namentlich im Schweizer Mittelland – sehr selten geworden, was auf eine falsch verstandene Waldbewirtschaftung zurückzuführen ist. «Je mehr man den Wald sich selbst überlässt, desto besser ist dies für die Artenvielfalt und unser aller Wohlergehen», betont Diana Soldo.
Denn die Vielfalt der Wälder wird nicht durch Eingriffe in bestehende Lebensräume geschaffen, sondern durch das Bewahren unterschiedlicher Strukturen, wie natürliche Waldränder, Feuchtgebiete oder schattige Wälder.
Der Wald und seine Mythen
Ein besonderes Element der Begehung im Giessbach war das gemeinsame Waldbaden (Shinrin Yoku), eine aus Japan stammende Achtsamkeitspraxis. In der Stille des Waldes nahmen die Teilnehmenden bewusst Geräusche, Gerüche und Stimmungen wahr – eine meditative Erfahrung, die zur inneren Ruhe führte.
Ergänzt wurde die Exkursion durch die lebendigen Erzählungen von Andreas Sommer. Der Sagenwanderer verknüpfte lokale Mythen und Naturbeobachtungen zu einem kulturellen Erlebnis, das die Landschaft nicht nur mit ökologischen, sondern auch mit spirituellen Augen sehen liess. «Geschichten erzählen, ist so alt wie die Menschheit. Geschichten erlauben uns, die Begrenztheit des Alltags für einen Moment aufzulösen und in die inspirierende Welt unserer inneren Bilder einzutauchen», ist der Sagenwanderer Sommer überzeugt.
Die nachhallende Botschaft
Die dreitägige Begehung war weit mehr als eine Naturführung: Sie wurde zum Erfahrungsraum für Achtsamkeit, Naturverständnis und kulturelle Tiefe.
Nachhallend und entsprechend nachhaltig wirkungsvoll nahmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Waldbegehung Diana Soldos Botschaft mit auf den Heimweg: «Nicht nur die Wälder in Indonesien, Brasilien, Kongo und Polen brauchen dringend Schutz. Auch zu unseren Wäldern hier in der Schweiz müssen wir Sorge tragen. Wir müssen unseren Umgang mit dem Wald überdenken und verändern – weg vom Gedanken des ‹Selbstbedienungsladens›.» Lesen Sie dazu mehr auf der nächsten Seite «Schweizer Wälder unter Druck».
Erlebnis Giessbachwald – Natur neu entdecken
Die begeisterten Rückmeldungen sprechen für sich: Weitere geführte Begehungen sind in Planung!
Erleben Sie die Magie des Giessbachwalds auf eine ganz besondere Art – wo fundiertes Fachwissen, lebendige Erzählkunst und stille Achtsamkeit zu einer tiefgehenden Naturerfahrung verschmelzen.
Schweizer Wälder unter Druck
Die Wälder im Schweizer Mittelland stehen unter wachsendem Druck. Intensive forstwirtschaftliche Nutzung, hohe Holzschlagraten und zunehmender Erholungsdruck setzen diesen sensiblen Ökosystemen zu. Besonders problematisch ist die grossflächige Fällung alter Bäume – oft mit der Begründung, sie würden den Klimawandel ohnehin nicht überstehen.
Diese Argumentation ist wissenschaftlich nicht haltbar. Alte Bäume sind widerstandsfähiger, speichern grosse Mengen CO2 und bieten zahlreichen Arten Lebensraum, den junge Wälder erst in Jahrzehnten wieder bereitstellen können. Ihr Verlust bedeutet nicht nur einen ökologischen, sondern auch einen kulturellen und klimatischen Schaden.
Die Vielfalt des Waldes und damit der Wald als Naherholungsgebiet droht im Schweizer Mittelland wegen der intensiven Bewirtschaftung und einer oft falsch verstandenen Unterhaltpflege zu verschwinden. So sollten Buchenwälder nicht gelichtet oder alte Bäume gefällt, sondern geschützt werden. Nur so können die Wälder, die seit Millionen von Jahren an ihre Standorte angepasst sind und sich weiter an die Umweltveränderungen anpassen, ihre wichtigen Ökosystemleistungen aufrechterhalten. Intakte Wälder regulieren das Klima und die Wasserkreisläufe, filtern Luftschadstoffe, produzieren Sauerstoff, fördern die Bodenbildung und -stabilisierung – und leisten noch vieles mehr. Ein nachhaltiger Umgang mit dem Wald braucht mehr Zurückhaltung – und den Mut, der Natur wieder mehr Raum und Zeit zu geben.