24.11.2025
Matthias Mast

Eine Schweizerreise zwischen Zuneigung und Zorn

Das Auge wird zu einem Pendel zwischen Schönem und Schrecklichem. Es weidet sich an herrlichen Landschaften und fantastischer Architektur. Doch leider stören die unzähligen Bauten, die Städte, Dörfer und Landschaften ruinieren statt bereichern, die Augenweide. Im herbstlich gelben Lärchenwald rund um den Lej Aratsch bei Pontresina kommt der Autor ins Sinnieren.

Verunsicherung macht sich breit: Liegt das Problem bei den Architekten oder aber im Auge des Betrachters, eines bekennenden Laien punkto (moderner) Architektur? Jedes Jahr fordert eine Schweizer Zeitung ihre Leserinnen und Leser dazu auf, das hässlichste Gebäude der Schweiz zu bestimmen, und ein News Portal präsentiert von Zeit zu Zeit «die 10 grössten architektonischen Schandflecken der Schweiz». 

Die Fotografien erfreuen sich jeweils höchster Aufmerksamkeit. Sie zeigen Gebäude des Grauens, Wohntürme des Wahnsinns, geschmacklose Villen, Reihenhaus-Siedlungen mit Geröllhalden-Charme, fensterlose Silos und betonierte Eiterbeulen. Oft werden diese Bauten von namhaften Architekten (seltener auch Architektinnen) ohne architektonischen Bezug zu den Landschaften oder zu den Stadt- und Dorfbildern geplant und «hingestellt». 

Architetktur mit ungedeckten Checks

Und weil die Verschandelung in der zunehmend «singapurisierten» Schweiz bereits erschreckend weit fortgeschritten ist, werden wir blind für das Gute und das Bewährte. Die moderne Architektur arbeite mit ungedeckten Checks, schrieb einmal der Architekt und Buchautor Hans Kollhoff. Sie stelle Hypothesen auf, die sich kraft ihrer Andersartigkeit nicht beweisen müssen und die, kommt ihre Untauglichkeit zum Vorschein, der Verdrängung anheimfallen. Kollhoff zielt in erster Linie auf die «Stararchitektur»-Bauten in den Städten, doch seine Kritik trifft auch zu bezüglich der Überbauung der Agglomerationen und der Erweiterung der Dörfer ins Schwarze.

Bekanntlich lässt sich über Geschmack streiten und gerne verwechseln die Laien, zu denen sich der hier Schreibende zählt, gewagte Architektur mit Hässlichkeit. Es geht aber nicht um den Unterschied zwischen den Stilrichtungen, zwischen Klassik und Moderne. Es geht um den Unterschied zwischen Projekten, die dabei sind, unsere Städte, Dörfer und Landschaften weiter zu ruinieren und solchen, die sie bereichern.

Von Montreux nach Pontresina

Mit diesen Gedanken im Gepäck mache ich mich auf, von Montreux nach Bern, dann weiter nach Zürich, anschliessend nach St. Gallen und ins Appenzellerland. Mein Endziel ist Pontresina. In der gleich dahinter liegenden Gletscherlandschaft mit dem Lej Aratsch (See des Aratsch) möchte ich unter der güldenen Sonne, zwischen den Lärchen sitzend, die kurz bevor sie ihre Nadeln verlieren, einen herrlichen gelbgoldenen Zauberglanz verströmen, die Seele baumeln lassen. 

Man kann in der Schweiz glücklicherweise immer noch viel Schönes entdecken: freie Landschaften, Felder, Wiesen und Wälder, glitzernde Seen mit noch unbebauten Ufern, auch Neubauten auf nachvollziehbaren Standorten mit architektonischen Gestaltungen, die nicht im Konflikt mit der Identität des historisch gewachsenen Orts- oder Landschaftsbildes stehen. Doch in dieser Hinsicht wahrlich gelungene zeitgenössische Architektur entdecke ich auf meiner Schweizerreise selten.

Der Eiffelturm, das finstere Ungetüm

«Neue Gebäude finden viele Menschen erstmal: hässlich. Dabei sind viele dieser Bauten elegant, durchdacht und schön» schrieb ein Kritiker der Kritik an zeitgenössischer Architektur auf einem Portal und präsentierte «Tipps, wie Sie sich den Hass auf zeitgenössische Architektur abgewöhnen können», denn vielleicht finde man nur schön, wenn etwas alt ist.

Der besagte Kritik-Kritiker griff dabei zum schweren Eisen, im wahrsten Sinne des Wortes: Der Eiffelturm sei ein hässliches «finsteres Ungetüm» und stehe in keinem Verhältnis zu den barocken und klassizistischen Bauten, für die Paris zu Recht berühmt sei. Zahlreiche Künstler, die im Jahre 1887 gegen den Bau protestierten, bezeichneten den geplanten Turm als «gigantischer schwarzer Fabrikschornstein und eine Schandsäule aus vernietetem Blech.» Heute aber werde niemand mehr auf die Idee kommen, ihn abzubauen, so das Fazit des Architektur-Kritik-Kritikers.

Hier wird eine Widerrede schwierig, denn der Eifelturm ist eine Erfolgsgeschichte und gegen den Erfolg gibt es kaum Argumente. Doch eine Frage drängt sich auf: Wie sähe Paris aus, wenn vor 135 Jahren nicht nur einer, sondern mehrere Eiffeltürme gebaut worden wären? Ein Wahrzeichen besticht bekanntlich durch seine Einzigartigkeit.

 Rücksicht auf Landschhaften und Ortbilder

Aber es ist schon so, dass wir allzu gerne das Alte verklären und die Gegenwart kritisch betrachten. Somit ist es bezeichnend, dass sich unsere verletzten Augen an die klotzigen Beton-Blöcke aus den 1960er- und 1970er-Jahren gewöhnt haben. 

Die Bauten dieses Architekturstils «à la mode du beton brut» werden heutzutage vielerorts sogar unter Denkmalschutz gestellt. 

Da seit den 1950er-Jahren vornehmlich der Effekt im Hier und Jetzt zählt, müssten nicht nur viele nach Selbstverwirklichung strebende Architekten über die Bücher, sondern auch viele Orts- und Stadtplaner. Denn diese schaffen mit oft nicht nachvollziehbaren Vorgaben beziehungsweise Ortsplanungsrevisionen erst die Voraussetzungen für die Verschandelung der Ortsbilder.

Wie bringt man alle Architekten dazu, auf eine Schreihals-Architektur völlig zu verzichten und vermehrt Rücksicht zu nehmen auf historisch gewachsene Ortbilder?

Denn auch moderne Architektur kann sich in ein harmonisches Ortsbild einfügen, bestehend aus zurückhaltenden, gut proportionierten und bis ins Detail sorgfältig gestalteten Bauten, welche aufeinander Rücksicht nehmen. Ganz im Sinne der zu früheren Zeiten praktizierten geduldigen Verfeinerung von Architektengeneration zu Architektengeneration über Jahrhunderte hinweg.

Stiftsbibliothek St. Gallen

Apropos Jahrhunderte: Auf meiner Reise nach Pontresina mache ich einen Abstecher Jahrhunderte zurück, in die Stiftsbibliothek St. Gallen – ein barocker Traum aus Holz, Licht und Wissen. Hier in diesem «Google des Mittelalters» – mit Schriften, welche bis ins Jahr 850 zurückreichen und mit uralten Globen, die nur eine teilweise entdeckte Welt abdecken – riecht es nach Ewigkeit und ein bisschen Staub der Schöpfung. Es scheint, als halten die Engel Wache über Jahrtausende, und wer die Ohren spitzt, hört vielleicht das Flüstern der Mönche, die noch immer in den Regalen wohnen. Hier an diesem Ort, wo Bücher nicht gelesen, sondern ehrfürchtig besucht werden, gönne ich mir eine Pause vom WLAN-Zeitalter. Während draussen die Zeit scrollt, streamt und swipt, ruht hier die Zeit in gebundener Form.

Ich setze mich einen Moment hin, und spüre, dass Bildung früher ein Abenteuer war – wenn auch nur für die privilegierten Klosterbrüder – und kein Algorithmus. Die Stiftsbibliothek ist kein Museum, sondern eine Zeitmaschine aus edlem Holz und mit kunstvollem Dekor, die sanft daran erinnert, dass das Denken einst leise begann.

Die Bewunderung der Schönheit genügt nicht

Stunden später sitze ich am Ende meiner kleinen Schweizer Reise am Lej Aratsch – kritisch beäugt von drei Enten und einem Enterich – und komme ins Sinnieren.

Ich bin ganz berauscht von der strahlenden Sonne und den gelbgoldenen Lärchen an jenem Ort, wo «gleich um die Ecke» die Verschandelung des Surlej verhindert wurde und die Geschichte der Fondation Franz Weber damit ihren Anfang nahm.

Hier ziehe ich nach meiner Schweizer Reise folgendes Fazit: Verunglückte Planungen und Bauwerke sind übel, aber sie stehen in keinem Verhältnis zu dem, was unseren Landschaften und Wäldern in Zukunft drohen wird: Die Verspargelung und Verschandelung durch die Windturbinen und Solarkraftanlagen …

In der Abenddämmerung in Pontresina dämmert es mir einmal mehr: Die Bewunderung der Schönheit allein genügt nicht. Weil der Profit über Landschaft geht, weil Seen, Wälder und Tiere keine Lobby haben – aber eine Stimme brauchen – braucht es heute mehr denn je die Fondation Franz Weber. Denn Bewahren ist kein Rückschritt, sondern Weitsicht.

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