07.12.2022
Dr. Diana Soldo

«Wir müssen unsere Wälder unter Schutz stellen»

Die Nutzung der Wälder und die Veränderung des Klimas bedrohen zunehmend unsere Wälder und ihre Funktionen. Deshalb sollten dringend mindestens 30 Prozent der Wälder in der Schweiz unter Schutz gestellt werden, und zwar als Naturwaldreservate.

Intakte und naturbelassene Wälder beheimaten die grösste Artenvielfalt unserer Erde und leisten einen enormen Beitrag zur Klimaregulierung. Sie entziehen CO2 und speichern Kohlenstoff in Holz und Boden, sie beeinflussen die Umgebungstemperatur, die Sauberkeit der Luft, bilden Sauerstoff und haben eine zentrale Funktion im natürlichen Wasserkreislauf. Wälder sind Lebensraum für Gemeinschaften und sollten auch als solches betrachtet und bewirtschaftet werden. Dies setzt ein systemorientiertes Vorgehen voraus, worin das Leben der Gemeinschaft gefördert wird und nicht dasjenige einzelner Arten. Die Biodiversität zu fördern, bedeutet nicht Arten zu begünstigen, es bedeutet, die Diversität, das Netzwerk, die Strukturen und die Funktionen des Ökosystems zu fördern und zu erhalten. Ökosysteme schützen und wiederherstellen ist eine der wichtigsten Aufgaben des folgenden Jahrzehnts. Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2021 bis 2030 zur «UN-Dekade zur Wiederherstellung von Ökosystemen» erklärt. Nie zuvor war es dringender, geschädigte Ökosysteme wiederherzustellen, nie zuvor war es dringender, unsere Wälder zu schützen.

Die Natur machen lassen
Eingriffe in den Wäldern fördern die Austrocknung der Wälder, die Ausbreitung invasiver Arten, die Vernichtung der Mikroorganismen in den Böden und den Verlust der Artenvielfalt. In den vergangenen Jahren sind viele Waldgebiete in der Schweiz durch Trockenheit, Stürme und Schädlingsbefall stark beeinträchtigt worden und können vielerorts ihre natürlichen Ökosystemleistungen nicht mehr erbringen. Weitsichtiges Handeln ist hier gefragt, damit unsere Wälder ihre wichtigen Funktionen auch in Zukunft erfüllen können, widerstandsfähig sind gegenüber klimatischen Veränderungen und Lebensraum für tausende Arten erhalten bleiben können.

Die Natur hat 300 Millionen Jahre Erfahrung, Wälder entstehen und regenerieren zu lassen. Wir Menschen haben dagegen kaum Erfahrung und sind nicht in der Lage, so komplexe Abläufe und Dynamiken zu überblicken, deshalb sollten wir, wenn möglich, die Natur machen lassen, wenn wir auf lange Zeit einen kräftigen und gesunden Wald haben möchten und unser Überleben und das vieler anderer Arten sichern möchten.

Wälder unter Schutz zu stellen garantiert, dass der Wald seinen Entwicklungsprozess ungestört durchlaufen kann, die Bäume also ohne menschlichen Eingriff keimen, wachsen, altern, absterben und sich zersetzen können und so die gesamte Lebensgemeinschaft sich erholen und wieder ins Gleichgewicht kommen kann.

Naturwaldreservate dringend benötigt
Die Schweiz war einst fast zu 80 Prozent mit Urwäldern bedeckt, Wälder, die nicht durch Nutzung des Menschen gestört wurden und eine natürliche Baumartzusammensetzung, Waldstruktur, Totholzmenge, Walddynamik und Bodenstruktur aufweisen. Heute sind weniger als 0,01 Prozent der Schweizer Waldfläche Urwald.

In den letzten Jahren sind zwar viele Pärke entstanden, sogenannte regionale Naturpärke und Naturerlebnispärke, aber diese sind nur beschränkt auf Naturschutz ausgerichtet und oft steht dabei die Wirtschaftsförderung im Vordergrund. Sie werten Lebensräume und Landschaften auf, um dem Tourismus und der regionalen Entwicklung Impulse zu verleihen sowie der Bevölkerung Naturerlebnisse zu vermitteln. Lediglich der schweizerische Nationalpark ist eine Ausnahme, er erfüllt die strengsten Normen, die es für Schutzgebiete gibt und gilt als Waldreservat.

Waldreservate sind grundsätzlich auf Dauer angelegte Schutzflächen zur Erhaltung der Ökosysteme und ihrer Biodiversität. In der Schweiz werden zwei grundlegende Typen von Waldreservaten unterschieden, Sonderwaldreservate und Naturwaldreservaten. In den Sonderwaldreservaten wird der Wald bewirtschaftet zugunsten von bestimmten Arten, wie zum Beispiel Orchideen und Auerhühnern, was aber nicht der Förderung der Biodiversität als Gesamtes dient. In den Naturwaldreservaten wird dagegen gänzlich auf forstliche Eingriffe verzichtet, die Bäume dürfen ihr natürliches Lebensalter erreichen und bleiben auch nach dem Zerfall im Wald und dienen unzähligen Arten als Lebensraum. Wesentlich für Naturwaldreservate ist, dass die Entnahme von Holz und sonstige forstwirtschaftliche Nutzungen untersagt sind und Bäume nicht von Menschen gepflanzt oder gesät werden und somit eine sogenannte Naturverjüngung entsteht. So wächst ein Wald heran, welcher der ursprünglichen Waldvegetation nahekommt.

Erste Naturwaldreservate wurden in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angelegt: Scatlè 1910, Schweizerischer Nationalpark 1914, und der Aletschwald 1933.

Waldreservate bedecken knapp fünf Prozent der Waldfläche der Schweiz, davon sind etwa nur die Hälfte Naturwaldreservate. Das politische Ziel der Schweiz ist seit etwa 20 Jahren, der Anteil der gesamten Reservate bis 2030 auf zehn Prozent zu erhöhen. Angesicht der aktuellen bedrohlichen Lage, wie starker Artenverlust, andauernde Trockenheit, Hitzezunahme, Frostabnahme und weiteren Aspekten mehr ist es dringend nötig, den Anteil so schnell wie möglich zu erhöhen. Die Wissenschaft spricht von 30 bis 50 Prozent Reservate, grossflächige Naturwaldreservate – und das so schnell wie möglich.

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