16.05.2024
Matthias Mast

Wollt ihr das Primat der Stromerzeugung vor dem Schutz der Natur und Landschaft?»

Interview mit Hans Weiss, Landschaftsschützer

Hans Weiss, geboren 1940 in Küsnacht ZH, hat ein ganzes Leben lang grossen Einsatz für den Landschafts- und Naturschutz in der Schweiz geleistet. Als Landschaftspfleger des Kantons Graubünden, als Lehrbeauftragter der ETH Zürich für Natur- und Landschaftsschutz, als Geschäftsleiter der Schweizerischen Stiftung für Landschaftsschutz und Landschaftspflege sowie des Fonds Landschaft Schweiz hat er wie Franz Weber entscheidend dazu beigetragen, Natur als solche zu bewahren und naturnahe Kulturlandschaft vor der Aufgabe und Zerstörung zu retten.

Weshalb sind Sie gegen den Mantelerlass, der jetzt «Stromgesetz» und je nach Ansicht «Stromsicherheitsgesetz» oder «Landschaftsverschandelungsgesetz» genannt wird?

Kurz und bündig gesagt: Weil mit dem Gesetz die Mitsprache der Bevölkerung und das Beschwerderecht der Natur- und Landschaftsschutzvereinigungen der sogenannten Energiewende geopfert werden.

Aber die von Ihnen mitgegründete Stiftung für Landschaftsschutz unterstützt den Mantelerlass?

Ja, leider. Wenn man offiziell mitmacht in Kommissionen oder an einem Runden Tisch, dann ist man dem ausgehandelten Kompromiss ausgeliefert. Ich muss ehrlicherweise sagen, dass an diesem Runden Tisch schon einiges erreicht wurde. Aber der Auenschutz wurde durchlöchert.

Inwiefern?

Im Einzelfall kann das Erfordernis des Restwassers aufgehoben werden. Bedarf und Standort von Anlagen werden per Richtplan und Gesetz festgelegt und können nicht mehr angefochten werden.

Die Befürworter sagen, dass der nun vorliegende Kompromiss, die geschützte Naturlandschaft kaum negativ beeinträchtigt.

Wer’s glaubt! Generell ist dieser Mantelerlass ein Bürokratie-Monster, dessen Umsetzung sehr schwierig sein wird. Es ist ein Flickwerk, welches für alle Seiten Angriffsflächen bietet. Zudem ist es verfassungswidrig, weil es die Gleichrangigkeit der Interessen von Energieversorgung und Natur- und Landschaftsschutz aushebelt. Die Energieversorgung hat gemäss diesem Kompromiss grundsätzlich den Vorrang. Das halte ich für fatal. Nach geltender Verfassung muss das im Einzelfall abgewogen werden.

Aber wie erklärt man dem Volk, dass der Anspruch auf genug Energie nicht höher zu bewerten ist als die Natur und Landschaft?

Das ist eine philosophische Frage, die ich wie folgt beantworten möchte: Wir können nicht menschliche Bedürfnisse über die Erhaltung der Natur stellen, weil wir von ihr abhängen und Teil von ihr sind. Politisch bedeutet das: Das Stromgesetz, wie der Mantelerlass nun heisst, will eben die Energieversorgung vorziehen, obwohl der Schutz von Natur, Wald und Landschaft gleich hoch zu werten ist.

Über diese philosophisch-politische Frage können die Schweizerinnen und Schweizer am 9. Juni abstimmen. Das ist doch erfreulich!

Nur dank dem Referendum, welches Leute wie Vera Weber und andere Mitstreiter glücklicherweise ergriffen haben. Denn bei diesen Fragen sollten die Bürgerinnen und Bürger entrechtet werden. Weder der Bundesrat noch das Parlament wollte beim Entscheid das Volk und die Kantone dabeihaben.

Der Abstimmungskampf hat es in sich, denn der Stromverbrauch steigt und steigt. Die Bevölkerung will genug Energie…

… und genügend Natur- und Erholungsräume! Bei dieser Abstimmung muss das Volk entscheiden über eine Vorlage im Sinne von «Wollt ihr das Primat der Stromerzeugung vor dem Schutz der Natur und Landschaft?». Doch genau vor dieser Frage haben sich wie bereits erwähnt das Parlament und die Regierung gedrückt. Weil die Menschen sich nach Erholungsräumen und natürlichen und unverbauten Landschaften sehnen.

Aber es ist eben ein Kompromiss, der letztendlich darauf begründet ist, den Stromverbrauch in der Schweiz zu befriedigen. Wie bereits gesagt: Wir verbrauchen immer mehr Strom…

…und verschwenden immer mehr. Da müssen wir ansetzen!

Wie und wo denn?

Gemäss einer Studie des Bundesamtes für Energie beläuft sich die ineffiziente Nutzung des Stroms, das heisst die Energieverschwendung in der Schweiz auf über 20 Prozent des Gesamtverbrauchs.

Das bedeutet konkret? Wo würden Sie dann ansetzen?

Es gibt Betriebe, die verbrauchen den doppelten Stromverbrauch der Stadt Luzern. Man müsste solche Betriebe zur Stromverbrauchseffizienz zwingen. Auch mit «Smart Energy» (bessere zeitliche Verteilung von Spitzenzeiten) könnte man viel gewinnen.

Der Energieverbrauch der Betriebe ist das eine, der Konsum der Bevölkerung das andere.

Statt immer nur die Nachfrage zu befriedigen, sollten wir die Begrenztheit des Angebots ins Zentrum stellen. Man kann nicht immer alles haben, und dies zu jeder Tages- und Nachtzeit. Den Menschen müssen beim Energieverbrauch klare Grenzen aufgezeigt werden, wie dies in anderen Bereichen des Lebens auch der Fall ist.

Sie wollen den Energieverbrauch rationieren?

Stromrationierung ist ein starkes Wort, und es ist nicht das, was ich meine. Es geht um einen Bewusstseinswechsel beim Stromverbrauch. Auch mit dem Tarif für Luxus, z.B. für geheizte Schwimmbäder könnte man einiges bewirken.

Da müssen Sie genauer erklären.

Ein Beispiel einer einfachen Methode: In Kalifornien gibt es immer wieder Probleme mit dem Stromnetz. Die Betreiber informieren jeweils die Kunden per Kurzmitteilung, wann sie den Stromverbrauch drosseln sollten, damit nicht alle zur gleichen Zeit die Tumbler, Toaster und Waschmaschinen laufen lassen. Dort funktioniert das, und damit können Netzzusammenbrüche verhindert werden. Das wäre auch in der Schweiz möglich. Wir müssen unser Bewusstsein ändern und uns daran gewöhnen, dass wir – wie bereits gesagt – nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit Energie im Allgemeinen oder Strom im Speziellen konsumieren können.

Werfen wir einen Blick zurück in die Vergangenheit, in eine Zeit, als ganze Täler und Dörfer für die Energiegewinnung geflutet wurden. Damals hatte man keine andere Wahl und der Widerstand dagegen war klein.

Das war, wie Sie richtig sagen, eine andere Zeit. Die Situation hat sich seitdem geändert. Unterdessen hat man 95 Prozent der geeigneten nutzbaren Fliessgewässer ausgebaut, sogar im Nationalpark. Heute muss man alles mit anderen Augen beurteilen. Energiegewinnungs-Projekte auf Kosten der Natur und der freien Landschaft sollten heute nicht mehr gebaut werden. Wir brauchen heute mehr Grün in den Städten und mehr Natur auf dem Land.

Die Befürworter sagen aber, dass sehr wenig Natur geopfert wird. Sowohl für Windanlagen als auch für Solarkraft.

Um mit Goethe zu antworten: «Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube». Ich kann ihnen auf einer Karte zeigen, welche Perlen der Natur den Gelüsten der Stromkonzerne ausgesetzt sind. Damit werden jahrzehntelange Errungenschaften im Naturschutz zunichte gemacht. Wenn ich nur daran denke, auf den sanften Jurahöhen oder bekannten Bergen der Voralpen die riesigen Monsterwindräder sehen zu müssen, und zu jeder Turbine führt eine Strasse! Mit der Zerstörung von gewachsenen, heimatlichen Landschaften geht immer auch etwas vom Sinn des Lebens verloren.

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