26.09.2023
Patrick Schmed

«Hier herrscht die Natur»

Im Sommerhalbjahr ist das Waldreservat im Giessbach beliebter denn je. Das hat auch Schattenseiten – je mehr Besucherinnen und Besucher ankommen, desto mehr Pflege und Unterhalt muss geleistet werden, damit die Domäne weiterhin natürlich und attraktiv bleibt.

40 Jahre ist es her, seit Franz Weber in einer einzigartigen Rettungsaktion Giessbach vor dem Abbruch bewahrt hat. Seine Idee, Giessbach dem Schweizervolk zu «schenken» und es dadurch für alle Zeiten unversehrt zu erhalten, fand in der Bevölkerung begeisterte Zustimmung. Zehntausende unterstützten die 1983 gegründete Stiftung «Giessbach dem Schweizervolk» mit Spenden. Zusammen mit seiner Frau Judith hat Franz Weber jahrelang dafür gekämpft, dass sich die Natur im 22 Hektar grossen Park von ihrer grosszügigsten Seite zeigen kann. Der Bach tost rauschend Richtung Brienzersee, uralte Bäume säumen die Wege, und die Luft lädt zum Durchatmen und Auftanken ein. Waldbaden, ein Trend aus Japan, wird hier seit 148 Jahren praktiziert, ohne trendig zu erscheinen. Unter anderem passiert dies auf den Wanderwegen, die vom Landschaftsarchitekten und ersten Hotelverwalter Edouard Schmidlin angelegt worden waren. Kein Wunder, zieht die natürliche Landschaft sehr viele Gäste an, gerade in der Ferienzeit. Eine Entwicklung, die auch ihre Schattenseiten hat.

Viel Arbeit nötig
Die Aufwendungen für den Unterhalt und die Pflege des Parks mit Gärten, Bahn und Schiffländte konnten noch nie allein durch die Erlöse aus dem Hotelbetrieb gedeckt werden. Um Giessbach für die Öffentlichkeit offen zu halten, ist jedes Jahr sehr viel Arbeit nötig, und diese muss ohne öffentliche Gelder bewältigt werden. Sprich: Die Stiftung ist auf wiederkehrende Spenden und Gönnerbeiträge angewiesen.

Geld bleibt im Giessbach
«Alles, was hier nach Abzug der Kosten für Löhne und weitere Hotelaufwendungen erwirtschaftet wird, bleibt im Giessbach», stellt Vera Weber klar. Für den Betrieb der Giessbachbahn fallen zum Beispiel Kosten in einer grossen Dimension an. Unterhalt, Reparaturen sowie kleinere und grössere Revisionen schlagen jedes Jahr zu Buche, in einigen Jahren sogar mit Beträgen im unteren Millionenbereich. Aktuell müssen die Gusseisenräder der Bahn saniert werden, weil ihnen der Zahn der Zeit zugesetzt hat und weil zusätzliche Fahrten die Konstruktionsteile noch mehr beanspruchen und die Arbeiten zur Sicherstellung der Betriebssicherheit immer aufwendiger werden.

Eine eigene Welt
Die historische Standseilbahn, die heute weltweit älteste ihrer Art, welche die Schiffländte mit dem Hotel verbindet, ist ein Wunderwerk der Schweizer Bahngeschichte. Die wachsenden Sicherheitsauflagen der Behörden für deren Betrieb erfordern jedoch immer grössere Ressourcen. Nach der aufwendigen Totalrenovation der Kabinen müssen die Räder neu gegossen werden. «Die jährlich anfallenden Kosten sind vor allem darauf zurückzuführen, dass Giessbach für Besucherinnen und Besucher frei zugänglich ist», fasst Ranger Thomas Herren zusammen. Bahn, Parkplätze, Wege, Wegweiser, Sicherheit, Sauberkeit und mehr sind wichtige Voraussetzungen, damit Menschen die wilde Natur ungetrübt geniessen können.

Baummonumente
Eindrückliche Baummonumente, Baumkronen so mächtig wie die Kuppel einer Kathedrale, junge Bäume und verfallene Strünke – im Giessbach ist der Wald so ursprünglich natürlich, dass man sich regelrecht in der Zeit zurückversetzt fühlt. Das ist kein Zufall, weiss Thomas Herren. «1950 hat der Kanton Bern den Giessbachwald als Naturdenkmal unter Schutz gestellt», erklärt der Ranger. Das bedeutet, dass hier keine Bäume gefällt werden dürfen und Bauen verboten ist. Der Forst kann sich wortwörtlich frei entfalten. «Dies ist die gleiche Voraussetzung, die für Waldreservate gilt», sagt Thomas Herren und findet es deshalb naheliegend, Giessbach ebenfalls als Waldreservat zu bezeichnen.

Viel Hege und Pflege
So wild die Natur auf der 22 Hektar grossen Fläche auch ist, braucht sie viel Hege und Pflege. «Wir sorgen dafür, dass die Wege tadellos unterhalten, sicher und sauber sind», erklärt Thomas Herren. Dafür werden Bäume gepflegt und wo nötig Äste entfernt, dafür werden Felsen gesichert, Wege, Plätze und Treppen saniert, Trockensteinmauern restauriert, Weidenhausplätze erneuert. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Giessbach stellen sicher, dass die Gäste mit Informationen versorgt sind und für die Natur und Kultur sensibilisiert sind. Mit Führungen und Exkursionen erhalten Interessierte neue Einblicke in die Giessbachwelt.

Es ist dringend
«Die Menschen brauchen solche Kraftorte wie Giessbach – heute mehr denn je», ist sich Vera Weber bewusst. Mit der Stiftung, die ihre Eltern vor knapp 40 Jahren gegründet haben, soll das Eintauchen in die ursprüngliche Idylle auch weiterhin möglich sein. Allerdings müssten die Menschen verstehen, dass dies nicht einfach selbstverständlich sei. «Wir sind an einem Wendepunkt», macht sie unmissverständlich klar. Die Schere zwischen Einnahmen und Kosten gehe immer weiter auseinander. «Damit Giessbach in dieser Form weiterbestehen kann, reicht es nicht, einen Kaffee auf der Hotelterrasse zu konsumieren oder zu übernachten», unterstreicht Vera Weber und fügt an, dass in Erwägung gezogen wird, eine Eintrittsgebühr im Sinne einer Umweltabgabe zu erheben. «Damit Giessbach eine Zukunft hat, braucht es weiterhin starke Zeichen. Nur mit grosszügigen Spenden kann Giessbach weiterleben»

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