11.06.2024
Patrick Schmed

Hörnli-Rehe: Ende gut, alles gut

Über 90 Jahre lang lebten die sanften Wildtiere auf dem grössten Waldfriedhof der Schweiz. Jetzt leben die Rehe im Kanton Jura. Die Fondation Franz Weber hat gemeinsam mit dem Friedhof-Team, Spezialisten und Partnern 37 Rehe eingefangen und im Kanton Jura freigelassen. Damit öffnen sich neue Perspektiven, auch im Wildtiermanagement.

Zahlreiche Emotionen bewegen Vera Weber an diesem Mittwoch mitten im März. Glücksgefühle, weil die Hörnli-Rehe vor dem Schicksal gerettet werden konnten, auf dem grössten Friedhof der Schweiz erschossen zu werden. Dankbarkeit, weil das Team des Friedhofs, die Kantone Basel-Stadt und Jura sowie zahlreiche Spezialisten und Partner dazu beigetragen haben, das anspruchsvolle Projekt gelingen zu lassen. Und Bedauern, weil die sanften Paarhufer nicht mehr auf dem Waldfriedhof anzutreffen sind, um – wie in den letzten über 90 Jahren – Trost zu spenden. In sieben Etappen wurden im Februar und März des letzten und des aktuellen Jahres 37 Rehe eingefangen und in dafür speziell angefertigten Holzkisten in den Kanton Jura transportiert. «Damit öffnen sich nicht nur für die Rehe neue Perspektiven, sondern auch im Wildtiermanagement», betont die Präsidentin der Fondation Franz Weber (FFW).

Das Finale einer Premiere

«Wir haben rund 400 Meter Netze gespannt und die Treiber haben verschiedene Sektoren des Basler Friedhofs in einer Reihe abgeschritten», erklärt Dr. Claude Fischer, Professor der HEPIA, (haute école du paysage, d’ingénierie et d’architecture de Genève). So wurden die Rehe in Richtung Netz getrieben. Ging ein Tier ins Netz, wurde es von den Wildtierspezialisten befreit und in eine der bereitstehenden Holzkisten gesperrt. Es ist das erste Mal, dass diese Methode auf einem Friedhof angewandt wird. Durch die Bauten, Mauern, Hecken, Gräber und Monumente gestaltet sich die Ausgangslage schwieriger und unberechenbarer als im natürlichen Umfeld. Dass die Umgebung nicht mehr ganz artgerecht ist, bietet schliesslich auch den Grund für die Umsiedlung. Die Rehe hatten sich immer stärker über den Grabschmuck hergemacht und dadurch Schäden verursacht. Schäden, welche die Basler Stadtgärtnerei und der Friedhof am Hörnli nicht mehr tragen wollten. Vor vier Jahren haben sie die Reduktion des Rehwildbestandes beim Kanton Basel-Stadt beantragt. Der Antrag wurde genehmigt. Dass die Tiere in der Dunkelheit geschossen werden sollten, weckte den Widerstand der Bevölkerung. Sie rief die Fondation Franz Weber zu Hilfe und wünschte sich eine humanere und tiergerechte Alternative.

Sonniger Abschluss statt Abschuss im Finsteren

Nun ist klar, dass die Umsiedlung sich als bessere Alternative bewährt hat. «Dies ist vor allem Dr. Claude Fischer und seinem aussergewöhnlichen Team sowie Ecotec Environnement S.A. zu verdanken», ist Vera Weber überzeugt. «Sie haben von der Planung bis zur letzten Freilassung enorm viel Herzblut und Professionalität ins Projekt gesteckt.» Grosse Dankbarkeit empfindet die FFW-Präsidentin auch gegenüber dem Team der Friedhofsgärtnerei. Dieses hat in allen Belangen geholfen. Im Hintergrund war das Bau- und Verkehrsdepartement BS mit der Regierungsrätin Esther Keller tätig. Vor Ort sorgten der Tierarzt Fredi Witschi und sein Team für die Untersuchung und Betreuung der Tiere. Am Ende sorgte auch der Kanton Jura für ein Happy End, denn er bietet den Rehen eine neue Heimat.

Alle Register gezogen

An diesem Mittwoch haben die rund 60 anwesenden Personen vier Rehe einfangen können. Sie hatten bei den vorangehenden Aktionen standhaft ihre Position behauptet und Claude Fischer und sein Team waren gefordert, mit dem Aufstellen der Netze und dem Bewegen der Rehe in Richtung Netze alle Register zu ziehen. Bisher sind keine Rehe mehr im Friedhof gesichtet worden. Vera Weber bewundert die Schlauheit der Tiere, weil sie die Schachzüge der wohlgesinnten Jäger teilweise voraussehen und untertauchen konnten. Ein mögliches Schlupfloch bieten auch die speziellen Rehpforten, die in den benachbarten Riehener Wald führen. Es ist nicht absehbar, wie viele Tiere sich aufgrund der Fangaktion für diese Alternative entschieden und dabei auf die «Futterlieferungen» in Form von Grabpflanzen verzichtet haben.

Neue Perspektiven

Nachdem im Lauf von mehreren Durchgängen vier Rehe ins Netz gegangen sind, fährt Vera Weber sie im Transporter in den Jura. «Die Wildhüter haben wiederum einen Standort ausgesucht, an dem die Tiere die besten Voraussetzungen zum Überleben haben», weiss die Tierschützerin. Neben einem idyllischen Teich laden die Wildhüter und das HEPIA-Team eine Holzkiste nach der anderen aus dem Heck des Wagens, um die Rehe am Waldrand freizulassen. Obwohl sie ein «bequemes» Lebens auf dem Friedhof ohne natürliche Feinde, Hunde, Jagdflinten, ohne Autos oder Züge hatten, scheinen sie nicht verletzlicher zu sein als ihre Artgenossen. Dank der Ohrmarke kann man nachvollziehen, wie gut sie sich in freier Wildbahn bewähren. 

Beruhigend

Als der gefangene Rehbock als letzter über die Wiese in den Wald rennt, macht sich bei den Anwesenden das Gefühl der Erleichterung breit. Auch wenn die Rehe durch das Fangen im Netz kurze Stressmomente erleben, haben sie durch die gewählte Methode beste Voraussetzungen, um ein artgerechtes Leben führen zu können. «Sobald es dunkel wird, beruhigen sich die scheuen Tiere», erklärt die anwesende Tierärztin Dr. Katharina Höcketstaller von der Praxis Fredi Witschi in Münchenbuchsee. Deshalb werden die Augen mit einem Stofftuch zugehalten, sobald die Wildtierspezialisten am Netz sind. Im Dunkeln der Transportkiste kommen die Paarhufer bereits nach kurzer Zeit zur Ruhe. «Schaut, der Bock kommt zurück, ob er wieder in die Kiste zurückmöchte», scherzt einer der anwesenden Wildhüter. Tatsächlich beobachtet das Männchen vom Waldrand aus die Tierschützer eine Weile. Als es gemächlich in den Wald zurückschreitet, wird es von Vera Weber in Gedanken begleitet. Sie hofft, dass der Bock die leichte Heiterkeit der Anwesenden in den jurassischen Frühling mitnehmen kann und noch ein langes und gesundes Leben vor sich hat.

Share this