26.09.2023
Dr. Diana Soldo

Kraftort Giessbachwald

Die Giessbachfälle und deren Umgebung gelten seit 1950 als kantonale Naturdenkmale und sind unter Schutz gestellt. Dank der Stiftung Giessbach sind das Grandhotel Giessbach und sein Wald ein Kulturgut von nationaler Bedeutung. Der Wald, der die Felsen über dem Brienzersee umhüllt, mit seinen verwunschenen Wanderwegen, der prachtvollen Vegetation und dem rauschenden Wasserfall, ist ein ökologisches Juwel

In der Schweiz sind nicht einmal vier Prozent der Wälder gänzlich vor Ein – griffen geschützt. Unsere Wälder wer – den zum grossen Teil von der Forstwirtschaft gepflegt und genutzt, um Bäume zu pflanzen und Holz zu ernten. Aktuell werden unsere heimischen Wälder wieder stärker bewirtschaftet, um den Hunger nach Energieholz zu stillen. So nicht im Giessbach. Der grosse Wald wird seit über 70 Jahren der Natur überlassen, was in der Schweiz eine Seltenheit ist. Es werden keine fremden Arten und keine Monokulturen gepflanzt, keine Holzerntemaschinen eingesetzt und keine Bäume vom Wald abtransportiert. Natürlich wachsende Bäume, ein gesunder Boden, viel wert – volles Totholz und ein gut funktionierendes Ökosystem sind die ersichtlichen Zeichen dafür.

Energie des Waldes trifft auf die des Wassers

Wie das Hotel Giessbach strahlt der Wald eine Aura der Unvergänglichkeit aus. Ein Märchenwald mit majestätischen Bäumen, umgeben von einer einmaligen Vegetation, zartem Moos, das die Felsen bedeckt, seltene Farne, die den Hang umsäumen. Die Energie des Waldes trifft auf die des Wassers der Giessbachfälle, die über 400 Meter hinunterstürzen, und die des knapp 30 Quadratkilometer grossen türkis grünen Brienzersees. Die Schönheit, die Ruhe und die frische Luft sind ein Genuss für Geist und Seele – ideal zum Innehalten und Kraft tanken.

Gesunde Bäume ohne menschlichen Eingriff
Im Giessbachwald finden keine wirtschaftlichen Holzschläge statt. Nie waren Erntemaschinen im Einsatz, keine Rückengassen sind ersichtlich. Es werden nur die nötigsten Eingriffe vorgenommen, um die Sicherheit von Mensch, Tier und Objekt zu gewährleisten: Baumpflegearbeiten entlang der Wege und Parkplätze, der Standseilbahn, im Bereich des Hotels und entlang der Stromleitungen und wo nötig Sicherungsnetze gegen Steinschlag.

Der Schutzstatus garantiert, dass der Wald seinen Entwicklungsprozess ohne menschlichen Eingriff durchlaufen kann. Der Boden ist gesund und lebendig, kann viel Wasser, Luft und Kohlenstoff speichern und trocknet weniger aus. Die Bäume keimen, wachsen, altern, sterben auf natürliche Weise, zersetzen sich und werden wieder zu Erde. Der Wandel von Leben und Vergehen ist überall ersichtlich. Diese Prozesse bieten vielen Tieren, Pilzen, Pflanzen und Flechtenarten Lebensraum, den es sonst nicht mehr gibt.

Natürliche Abwehr gegen Eschentriebsterben
Der Giessbachwald ist ein natürlicher Mischwald geprägt von der Rotbuche und anderen einheimischen Baumarten wie Fichten, Ahornen, Linden, Mehlbeere und Eschen und so weiter. Die Eschen sind recht vital, offenbart Fabian Dietrich, Baumpflegespezialist und Geschäftsführer der Baumpflege Dietrich GmbH, die für die Pflege der Bäume des Giessbachs zuständig ist. Die Eschen im Giessbachwald halten dem Eschentriebsterben stand, eine Pilzkrankheit, die in der Schweiz viele Eschen zum Absterben gebracht hat. Ein Beweis mehr, dass ein ungestörter Wald robuster und widerstandsfähiger ist.

Bedeutung alter Bäume im Ökosystem
Manche Bäume sind im Schutzwald über 150 Jahre alt, was eine Seltenheit ist, da in Nutzwäldern Bäume meist vor ihrem 100-jährigen Lebensjahr gefällt werden. Alte Bäume spielen mehrere wichtige Rollen für das Ökosystem. Weil sie mehrfach klimatische Veränderungen erlebt haben, haben sie die Fähigkeit erlangt, diese zu meistern, und können derlei Eigenschaften an ihre Nachkommen weitergeben. Sie speichern um ein Vielfaches mehr Kohlenstoff als junge Bäume und sorgen für ein vorteilhaftes stabiles Mikroklima in der Umgebung, spenden Schatten und verdunsten Wasser.

Mit ihren mächtigen und tiefen Wurzeln, oft so gross wie die Krone der Bäume, vernetzen sie sich mit den unterirdischen Pilzfäden zu einem Riesen-Netzwerk, auch Wood Wide Web genannt, verhindern Bodenerosionen und speichern Nährstoffe. Grosse abgestorbene Bäume sind wichtige Wasserspeicher. Dies merkt man, wenn man auf einem grossen toten Baumstamm sitzt, der am Zersetzen ist; er fühlt sich feucht an, auch in der Trockenperiode. Gerade in Zeiten von Waldbrandgefahren ist dies von grosser Bedeutung.

Für die Artenvielfalt und das Klima
Wenn ältere Bäume sterben, vergehen Jahrzehnte, bis die grossen Stämme verrotten, und bieten in dieser Zeit als Totholz die Lebensgrundlage für Tausende von Arten. Abgestorbene Bäume gehören zu den artenreichsten und wichtigsten Lebensräumen im Wald. Etwa ein Viertel aller im Wald lebenden Arten sind darauf angewiesen. In der Schweiz sind das allein Dutzende von Vogelarten, Hunderte von Flechtenarten, Tausende von Pilz- und Käferarten und Millionen von Mikroorganismen.

Dank Totholz entstehen nicht nur neue Lebensgrundlagen, auch wird mehr Kohlenstoff in die Erde gelagert. Je älter der Wald, desto höher die CO₂ Absorption. Da im Giessbach keine Bäume zur Energiegewinnung gefällt werden, bleibt das CO₂ in den Bäumen und im Boden gebunden, was heute etwas vom Wichtigsten ist. Damit wirkt der Giessbachwald auch dem Klimawandel entgegen.

Ein widerstandsfähiger Wald, gesunder Boden, geschützte Biodiversität, Speicherung von CO₂ und ein einmaliges Gelände, das unter Schutz steht. Vera Weber führt fort, was ihr Vater, Franz Weber, vor 40 Jahren angefangen hat: den Giessbachwald, ein einzigartiges Juwel, zu bewahren.

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