22.12.2019
Matthias Mast

Die Schweiz zeigt Herz, die Welt zieht nach

Für die Babyboomer­-Generation (die zwischen 1945 – 1965 Geborenen) war es das kulinari­sche Highlight der Woche: Der Sonntagsbraten. Tempi passati – heutzutage ist allertage Sonntag. Fleisch ist nichts Besonderes mehr, für welches man tief in den Geldbeutel greifen muss, sondern billig produzierte «Massenware», die man sich täglich gönnt, ohne an dessen Herkunft und Herstellung zu denken. Man isst ja «nur» Fleisch, kein Tier… Es ist höchste Zeit unser gestörtes Verhältnis zum Tier zu überdenken. Die Massentier­haltungsinitiative weist den Weg: Zurück zum bewussten Konsum von tierischen Produkten – zu weniger Masse und zu mehr Qualität – zum Wohle der Tiere, der Menschen und der Umwelt.

Seit 2003 gilt laut Zivilgesetzbuch für die Schweiz: «Tiere sind keine Sachen». Dieses in einem unserer Grundgesetze verankerte Prinzip zeugt vom Willen, die Tiere als Individuen zu schützen, und von einer fortschrittlichen Tierschutzgesetzgebung. Zum Tierschutz und zum Verzehr tierischer Produkte befragt, bringt die Schweizer Bevölkerung, ihren Willen zum Ausdruck, Tieren ein glückliches Leben zu ermöglichen, und möchte selbst nur hochwertiges Fleisch verzehren.

Den Nutztieren in der Schweiz geht es also saugut. Wirklich?
So fortschrittlich unsere Tierschutzgesetze auch sein mögen, sie genügen nicht. Es vegetieren hierzulande eineinhalb Millionen Schweine in engen Räumen ohne Tageslicht vor sich hin. Acht bis zehn Schweine auf einer Fläche eines Parkfeldes. Nicht besser geht es den Hühnern, von denen über drei Viertel des Bestandes nie eine Wiese sehen.
Den meisten Nutztieren geht es – im Unterschied zu den meisten Haustieren – sauschlecht. Auch in der Schweiz. Das ist Tatsache. Doch sollten wir Konsumenten mit dem Finger nicht nur auf die Tierhalter – oft sind es noch Bauern, allzu oft professionelle Tiermästungsanstalt-Betreiber – zeigen, sondern uns selbst an der Nase nehmen, und unsere Fleischgewohnheiten drastisch ändern. Das bedeutet: Kein Fleisch im Ausverkauf kaufen und Schluss mit dem Fleisch-Schnäppchen-Jagen ennet der Landesgrenze. Denn obwohl in unserer Gesellschaft ein breiter Konsens darüber besteht,dass Tierquälerei gestoppt werden muss, zeigt die Haltung von Nutztieren eine Doppelmoral. Menschen protestieren zwar gegen Tierquälerei auf der Strasse, essen aber trotzdem Fleisch aus der Massentierhaltungsproduktion.
«Tiere hatten schon immer eine Doppelfunktion», sagte dazu Markus Wild, Tierphilosoph an der Universität Basel, vor zwei Jahren in einem Interview mit dem St. Galler Tagblatt. «Sie sind Begleiter und Gefährten. Wir hängen an unseren Haustieren und beuten zugleich Schweine und Hühner brutal aus.» Dabei sei es wichtig, dass Hunde und Katzen sichtbar seien, etwa in Internetvideos. Hühner und Schweine müssten hingegen möglichst unsichtbar in den Mastbetrieben bleiben.
Fast niemand möchte einem Tier Leid zuführen, dennoch werden Milliarden Tiere geschlachtet. «Indirekt ist jeder Fleischesser ein Tierquäler», sagt Tierphilosoph Markus Wild. In der Psychologie spreche man vom «Fleischparadox».
Gegen dieses «Fleischparadox» wüsste die Publizistin Hilal Sezgin ein einfaches Rezept: «Wenn die Ställe Glaswände hätten, wären alle Menschen Veganer».
Hierzu könnte man beifügen: Und wenn die Kinder mindestens einmal während der obligatorischen Schulzeit einen Schlachthof besuchen müssten, würden wohl die Fastfood-Fleischbuden mit gähnender Leere glänzen.

Es gibt Grund zur Hoffnung: Immer mehr Menschen essen kein Fleisch mehr oder verzichten sogar ganz auf tierische Produkte. Der Fleischkonsum pro Kopf war letztes Jahr so tief wie seit 1969 nicht mehr.
Doch gemach, gemach: Die vegane Ernährung ist zwar trendy, jedoch auf kleinem Niveau, der Anteil der Veganer liegt im unteren einstelligen Prozentbereich. Eine gesunde und zugleich ökologisch nachhaltige Ernährung sähe, gemäss einem von 37 Wissenschaftlern in der Zeitschrift «The Lancet» zu Beginn dieses Jahres publizierten «Speisezettel», folgendermassen aus: 43 Gramm Fleisch (darunter 7 Gramm rotes Fleisch) pro Tag, dafür aber 500 Gramm Gemüse und Obst und 125 Gramm Hülsenfrüchte und Nüsse sollte eine Person verzehren. Alsweitere Energielieferanten dienen jeweils knapp 250 Gramm Körner (Getreide, Mais oder Reis) und Milchprodukte. Erlaubt sind zudem knapp 50 Gramm Fett, davon fast ausschliesslich solches mit ungesättigten Fettsäuren pflanzlichen Ursprungs, und 30 Gramm zusätzlicher Zucker. Der Vergleich mit dem durchschnittlichen Fleischkonsum in der Schweiz (knapp 140 Gramm pro Kopf und Tag) zeigt auf, wie weit wir von einer gesunden Ernährung entfernt sind.

Doch um die ökologische Stabilität des Planeten zu erhalten, muss neben den Speisezetteln auch die Landwirtschaft massiv umgestellt werden. Die 37 Experten aus den Bereichen Medizin, Ernährungswissenschaften, Landwirtschaft, Klimaforschung, Ökonomie und Politik haben für fünf Bereiche Grenzwerte berechnet, die jeweils nicht überschritten werden sollten: Die Produktion von klimaschädlichen Gasen, die Verwendung von Nitrat- sowie phosphathaltigen Düngemitteln, den Frischwasserverbrauch, die Biodiversität sowie die Landnutzung. Allerdings wurden die Ziele global formuliert, so dass unklar ist, was welches Land dazu beitragen kann und soll. Eines ist sicher: Die geforderte Umstellung hätte deutlich weniger Viehhaltung zur Folge. Durch eine pflanzenbasierte Ernährung würden nämlich 80 Prozent weniger klimaschädliche Gase emittiert. Allerdings bliebe die Landnutzung gleich, denn es würde ja mehr Land für den Anbau von Gemüse, Obst und Nüssen benötigt. Und der Wasserverbrauch nähme sogar leicht zu. Daher müssten unter anderem auch andere Bewässerungspraktiken und an die klimatischen Bedingungen vor Ort angepasste Gewächse eingesetzt werden. Zudem müssten diverse Produkte wie Düngemittel, aber auch gewisse Lebensmittel, global umverteilt werden.

Viele der in «The Lancet» präsentierten Daten wie Massnahmen sind bekannt. Aber die ausführliche Darstellung sowie die berechneten Zukunftsszenarien zeigen, wie dringend das Problem ist. Viel Zeit für massgebliche Verhaltensänderungen bleibe uns nicht, warnen die Experten. Mit der Annahme der Initiative gegen die Massentierhaltung, welche sowohl die einheimische als auch die ausländische Fleischproduktion betrifft, kann die Schweiz ein in der ganzen Welt Aufsehen erregendes Zeichen setzten:
Für das Wohl der Tiere, der Menschen und der Umwelt!

Quellenangabe: thelancet.com, NZZ, St. Galler Tagblatt, Proviande, EZV

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