15.03.2023
Patrick Schmed

Saga der Hörnli-Rehe ist einen Schritt weiter

Seit bald drei Jahren engagiert sich die Fondation Franz Weber dafür, den Abschuss der rund sechzig Rehe auf dem Friedhof am Hörnli bei Basel zu verhindern. Kürzlich wurden in Riehen 21 Tiere eingefangen und in den Kanton Jura umgesiedelt. Damit wird der Weg für neue Wege im Wildtiermanagement geebnet.

Still steht das Reh noch einige Sekunden da, nachdem es aus der Holzbox befreit wurde. Das Tier dreht den Kopf nach links und dann langsam in die andere Richtung, so als würde es seine Fänger und Fängerinnen betrachten und dann die neue Umgebung in Augenschein nehmen. Hügel, einzelne freistehende Bäume, eine Felswand aus Kalk über dem Waldrand. Dies ist die natürliche Umgebung für die Art der Capreolus capreolus. Ganz plötzlich rennt das Tier los, und die Wildtierexperten atmen sichtlich auf. Der Umzug vom Friedhof am Hörnli in ein artgerechtes Habitat ist gelungen. Besonders gross ist die Erleichterung und Freude bei Vera Weber und Dr. Monica Biondo. Für die zwei Frauen bedeutet dieser Moment eine Art vorläufiger Abschluss eines über zweieinhalb Jahre dauernden Projektes. Sozusagen das Einschwenken Richtung Happy End für die Hörnli-Rehe.

Eine lange Geschichte
Der Anfang der Geschichte rund um die Rehe am Hörnli liegt schon sehr weit zurück. Um 1932 wird der Parkfriedhof in der Nähe des Badischen Bahnhofs eröffnet, als Vorbild dient der Friedhof Hamburg-Ohlsdorf, auf dem zahlreiche Säugetiere leben. Den sanften Tieren wird Trost zugeschrieben, deshalb ist die Anwesenheit der Rehe in Basel erwünscht und geplant. Die meisten Menschen empfinden heute noch so, aber für die Friedhofverwaltung wurde die Rehpopulation immer mehr zum Problem. «Aus Furcht vor Wildschweinen wurde die 54 Hektare grosse Anlage immer hermetischer umzäunt», erklärt Dr. Monica Biondo, Zoologin der Fondation Franz Weber, die Ursache für die kritische Situation. Die Rehe konnten nicht mehr in den benachbarten Wald ausweichen und vermehrten sich innerhalb des Friedhofs weiter. Sie taten sich am Grabschmuck und den Kränzen gütlich. Die Friedhofverwaltung schätzte den Schaden im Jahr 2020 auf 100’000 Franken.

Zum Abschuss freigegeben
Anfangs Mai 2020 genehmigt die Polizei von Basel-Stadt den Abschuss von Rehen auf dem Friedhof am Hörnli, um die Population zu regulieren. «Die Todesstrafe steht in keinem Verhältnis zum Schaden, den die Rehe verursachen», kontert Vera Weber, Präsidentin der Fondation Franz Weber. Dies auch angesichts der Ausbeutung der Natur durch die Menschheit, die meist ungestraft bleibt. Die FFW mit Helvetia Nostra, Vera Weber und der Basler Grossrat Heinrich Ueberwasser legen gleich nach Bekanntwerdung der Abschussgenehmigung Rekurs ein. Dadurch sind die Rehe vorerst in Sicherheit. Damit dies langfristig so bleibt, schlägt die FFW dem Kanton Basel-Stadt einen Runden Tisch vor, an dem verschiedene Optionen und Lösungsvorschläge diskutiert und umgesetzt werden können.

Zahlgenau
Um die Situation richtig beurteilen zu können, veranlasst die Fondation Franz Weber eine genaue Einschätzung der Grösse der Rehpopulation. Im Dezember 2020 zählt Dr. Monica Biondo zusammen mit dem Ökobüro Ecotec Environnement aus Genf und Gärtnern des Friedhofs am Hörnli die Anzahl der Tiere auf dem Areal. «Wir haben das Gebiet nachts systematisch mit Scheinwerfern abgesucht und die Beobachtungen auf einer Karte dokumentiert», erklärt die projektführende Zoologin. Zur Verifizierung der Zahlen wurde mittels Drohne über den Friedhof geflogen und über 300 Fotos von Friedhofsrehen ausgewertet. Es stellte sich heraus, dass rund doppelt so viele Rehe auf dem Friedhof leben wie angenommen worden war, nämlich um die fünfzig Tiere. «Die Rehwilddichte ist sehr hoch, rund fünf Mal höher als in anderen Regionen», stellt Monica Biondo fest. Sie geht davon aus, dass zwei Jahre nach der Zählung insgesamt rund 60 Rehe auf dem Friedhof leben.

Auf und Ab am Runden Tisch
Auch wenn die Gespräche am Runden Tisch vielversprechend verlaufen, gibt es nebst den Fortschritten auch Rückschläge. Man versucht beispielsweise, den Rehen andere Pflanzen als Alternative anzubieten oder den Blumenschmuck mit Gittern zu schützen – leider mit wenig Erfolg. Da mehr Rehe auf dem Friedhofsareal leben als angenommen, zeichnet sich für Monica Biondo und Vera Weber eine völlig neuartige Idee ab, nämlich das Einfangen und Umsiedeln der Paarhufer mit dem Ziel, dass diese später keinen Zugang mehr zu den Gräbern haben. Ein Pilotprojekt, denn die Methode wurde ihres Wissens noch nie auf einem Friedhof angewandt.

Die FFW-Verantwortlichen brauchen Geduld, bis die behördlichen Abläufe durchlaufen sind und die Bewilligungen von Bund und Kanton vorliegen, bis mögliche Zielorte gefunden sind und alle Partner am gleichen Strick ziehen. Zudem müssen die Zeitfenster für die Umsiedlung mit den Jahreszeiten, den Jagd- und Trächtigkeitszeiten abgestimmt werden. «Da es sich bei Rehen um einheimische Tiere handelt, sollen sie in ihren natürlichen Lebensraum umgesiedelt werden», betont Monica Biondo. Der relativ stark eingezäunte Friedhof entspricht dieser Anforderung nicht mehr. «Rehe leben im Wald und in offenen Landschaften», so Monica Biondo. Diese finden sie sowohl in ihrer neuen Heimat, dem Jura, vor wie auch im oberen Teil des Friedhofs, von wo aus die Rehe sogar nach Deutschland gelangen können.

Neue Wege
Eigentlich hätte man die Rehe einfach aus dem Friedhof in den angrenzenden Wald treiben können, allerdings leben dort gemäss der Riehener Waldbehörde bereits sehr viele Rehe. Die zwei im Jahr 2021 angelegten Reh-Durchgänge wurden zwar genutzt, aber nur von einigen wenigen Paarhufern. Weitere Durchgänge machen wegen der nahen Siedlung keinen Sinn. Ein neuartiges Wildtier-Management soll das Gleichgewicht schaffen zwischen der Pflege und dem Unterhalt der Friedhofanlage, der Biodiversität und der Grösse der Rehpopulation. «Der Friedhof am Hörnli kann eine Vorreiterrolle einnehmen und aufzeigen, wie sich Mensch und Tier an öffentlichen Stätten respektvoll begegnen können», fasst Vera Weber zusammen. Damit dies gelingt, braucht es ganz neue Wege.

Pilotprojekt
Im Februar und März dieses Jahres ist es endlich so weit – rund 20 Rehe können eingefangen und umgesiedelt werden. Der Kanton Jura hat sich bereit erklärt die Tiere aufzunehmen. Rund 30 Friedhofsgärtner und Freiwillige bilden eine Reihe und drängen die Rehe in Richtung des 400 Meter langen Stellnetzes. Dort stehen 25 Expertinnen und Experten bereit. Sobald ein Tier ins Netz geht, befreien vier von ihnen dieses aus dem Netz und laden es vorsichtig in eine Einzelbox. Die Arbeit wird von Professor Claude Fischer der Haute école du paysage, d’ingénierie et d’architecture de Genève (HEPIA), geleitet. Er bringt sehr viel Erfahrung mit dem Fang von Rehen mit. Die Biologinnen und Biologen, die Wildhüter aus den Kantonen Tessin und Jura an seiner Seite haben alle die vom Bund vorgeschriebene Ausbildung zum Fang von Säugetieren absolviert. «Ich kenne bisher kein ähnliches Projekt», sagt Vera Weber am ersten Stichtag der Fangaktion. Die Präsidentin der Fondation Franz Weber ist persönlich vor Ort und macht in der Reihe der Treiber mit.

Gelungene Premiere
Bereits am ersten der geplanten Stichtage für die Umsiedlung der Rehe werden elf Tiere eingefangen – sechs Männchen und fünf Weibchen, davon je ein Jungtier. Bei der zweiten Aktion werden drei Rehe, und beim dritten und letzten Tag sieben Rehe gefangen und umgesiedelt. Für die Fondation Franz Weber ein voller Erfolg. «Die Aktion verlief ohne Komplikationen, und die Tiere waren allesamt gesund und wohlauf», zieht Vera Weber Bilanz. Das bestätigt der Veterinär Dr. Fredi Witschi. Er hat die gefangenen Rehe fachgerecht untersucht. «In der Dunkelheit der Kisten beruhigen sich die Tiere nach kurzer Zeit», klärt der Fachmann auf. Der gleichmässige und ruhige Atem, den er bei allen Tieren feststellen konnte, sei ein sicheres Zeichen für ihr Wohlergehen. Für den jurassischen Wildhüter ist ihr Gesundheitszustand überraschend gut.

Neue Heimat im Jura
«Die Tiere werden an unterschiedlichen Standorten im Kanton Jura freigelassen, wo sie in ihrer natürlichen Umgebung ein artgerechtes Leben führen können», freut sich Vera Weber. Jedes Tier wird am Ohr markiert, sodass es von den Wildhütern sowie Jägerinnen und Jägern im Gebiet erkannt wird. «Hier haben sie natürliche Feinde, und das Futterangebot ist nicht so reichhaltig wie auf dem Friedhof», lässt Tierarzt Fredi Witschi durchscheinen. Dafür steht ihnen die Welt offen und die Populationen können sich durchmischen – was langfristig für einen gesunden Bestand entscheidend ist.

Hoffen auf das grosse Happy End
Die erste erfolgreiche Aktion beweist, dass die Alternativen zum Abschuss praxistauglich sind. «Vor über 90 Jahren hat man die Rehe wegen ihrer friedlichen Ausstrahlung als Bereicherung für den Friedhof gesehen, nun hätte man jährlich alle bis auf neun Tiere mit Nachtsichtgerät und Schalldämpfer erschossen, wenn wir nicht interveniert hätten», so die deutlichen Worte von Vera Weber. Dass sie weiter für die Rehe am Hörnli kämpfen wird, versteht sich von selbst. Dass die sanften Tiere seit jeher mit dem Wort Frieden assoziiert werden, macht sie heute umso wichtiger und wertvoller für die Zukunft unserer Gesellschaft.

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